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28. März 2024

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Wenn alles funktioniert

Wenn alles funktioniertEPA

Wenn Handeln im harmonischen Fluss ist – ein erstrebenswerter und paradoxer Zustand.

Nahezu jeder von uns kennt ihn: eben jenen seltenen Zustand, wenn auf einmal alles funktioniert, wenn jede Bewegung stimmt. Und kein Nachdenken über das, was man gerade macht, den als glücklich erlebten Verlauf den Handelns unterbricht und stört. Winterliche Alpingenießer wissen zu erzählen, dass in genau diesem Zustand der Schnee der Piste mit all seinen tückischen Unebenheiten – fast wie magisch – unter ihren Skiern oder ihrem Snowboard einfach weggeglitten ist. Auch Journalisten kennen diesen Effekt, wenn sich nach einigen Anlaufschwierigkeiten und unter der wachsenden Bedrohung durch den finalen Abgabetermin endlich der „Schreibfluss“ einstellt – und der Text sich plötzlich wie von selbst ergibt. Und auch Computerfreaks machen die faszinierende Erfahrung, dass sie bisweilen dermaßen in ein Spiel oder eine Programmierung eintauchen, dass sie viele Stunden lang voll konzentriert, scheinbar mühelos, ohne Hunger oder Müdigkeit zu verspüren, aktiv zu sein vermögen.
Nun: Bekannt dürfte dieser Zustand wohl seit Menschengedenken sein, aber erst seit 1975 hat das Phänomen in der wissenschaftlichen Psychologie auch einen gängigen Namen: Flow. Und geprägt hat ihn ein Mann mit einem nahezu unaussprechlichen Namen: Mihaly Csikszentmihalyi, ein ungarisch- stämmiger Philosoph und Psychologe, der heute als Professor für Unternehmensführung an der kalifornischen Claremont Graduate University forscht und lehrt.

Hochkonzentriert
Csikszentmihalyi erinnert sich, wodurch er auf diesen Aspekt des „gelungenen Fließens“ gestoßen war: „In den frühen 70er Jahren sprach ich mit Schachspielern, Bergsteigern, Musikern und Basketballspielern. Ich bat sie zu beschreiben, was sie erlebten, wenn das, was sie taten, richtig gut lief. Natürlich rechnete ich mit den unterschiedlichsten Geschichten. Doch die Interviews schienen sich in vielen wesentlichen Aspekten auf ein und dieselbe Qualität der Erfahrung zu konzentrieren.
Zum Beispiel sagten alle, dass man völlig in dem, was man täte, aufginge, dass die Konzentration sehr hoch wäre, dass man von Augenblick zu Augenblick genau wisse, was man zu tun habe und eine sehr direkte und schnelle Rückmeldung darüber erhielte, wie gut man bei seiner Arbeit wäre. Zudem auch noch, dass den eigenen Fähigkeiten zwar das Äußerste, jedoch nie zu viel abverlangt würde. Mit anderen Worten, die Herausforderungen und die Fertigkeiten hielten sich die Waage.“

Alle Kulturen fließen gleich
Der generelle Effekt davon, so Csikszentmihalyi: „Waren all diese Bedingungen simultan gegenwärtig, vergaß man seine Alltagssorgen und sogar sich selbst als etwas Getrenntes von dem, was gerade vor sich ging. Man war sich bewusst, dass man Teil von etwas Größerem war, und bewegte sich entlang der inneren Logik der Handlung. Seit dieser Zeit haben Kollegen von mir zigtausende Menschen in aller Welt interviewt: Tuchweberinnen im Hochland Borneos, meditierende Mönche in Europa, auch katholische Dominikanermönche und viele, viele andere, und sie alle sagten dasselbe. ‚Flow‘ scheint also ein phänomenologischer Zustand zu sein, der in allen Kulturen gleich ist. Was die Menschen tun, um in diesen Zustand zu gelangen, ist höchst unterschiedlich, aber das Erlebnis selbst wird auf sehr ähnliche Weisen beschrieben.“
In der Folge begann Csikszentmihalyi systematisch die Faktoren zu untersuchen, welche diesen von allen Befragten als glücklich empfundenen „Zustand des Fließens“ begleiten: Die erste notwendige Voraussetzung für das Erleben von Flow besteht darin, dass die besagte Aktivität ganz klare Ziele und unmittelbare Rückmeldungen bietet. Ein Musiker, etwa ein Gitarrist, erkennt an der akustisch hörbaren Tonfolge sofort, ob ihm ein technisch schwieriger Griff gelungen oder misslungen ist. Ein Surfer oder Snowboarder wiederum daran, dass ihn die Welle beziehungsweise die Piste mehr oder weniger unsanft abwirft. Eine zweite, mindestens genauso wichtige Bedingung für ein Eintreten in diesen Flow-Zustand besteht in der Fähigkeit, die konkrete Aktivität mit gerichteter Aufmerksamkeit und hoher Konzentration auszuführen. Ein verblüffender Effekt, der jenen Zeitgenossen bestens vertraut ist, die eine Kampfkunst wie Aikido erlernen: Aus körperlich sehr intensiven Trainings geht man aufgrund des dabei erlebten Flow-Gefühls munter und erfrischt sowie ruhig und entspannt hinaus.
Zugegeben, eine harmlose Form der ungeteilten Konzentration, über die etwa jene Freeclimber, die ungesichert die schwierigsten Wände bezwingen, nur lächeln können: Diese Spezialisten verdanken ihr Leben der Tatsache, dass jede kleinste Bewegung in der Wand mit einem Maximum an Aufmerksamkeit ausgeführt wird. Ein einziger Moment der Unachtsamkeit – und der Freeclimber erlebt seinen allerletzten freien Fall. Und dennoch berichten gerade jene Extrem- Kletterer sehr häufig über wundersame Flow-Zustände, die sie bei dem für Außenstehende fast unmöglich scheinenden Bezwingen der senkrechten Wände erfahren. Gerade an Berichten dieser sehr außergewöhnlichen Art werden für Mihaly Csikszentmihalyi einige weitere konstituierende Elemente des Flow deutlich erkennbar: Wir müssen der Aktion nicht nur potenziell gewachsen sein, sondern auch über ein dermaßen ausgeprägtes Gefühl der Kontrolle über die Tätigkeit verfügen, dass unsere Sorgen um uns selbst im konkreten Vorgang keine Rolle mehr spielen.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Csikszentmihalyi meint mit Letzterem keineswegs eine der gängigen Formen von Kontroll-Wahn oder Risiko- Geilheit, sondern jene im Flow- Zustand häufig eintretende Sorglosigkeit, die auf Konzentration, Achtsamkeit und Können beruht. Er verdeutlicht dies an einer alten chinesischen Parabel vom schlichten, bescheidenen Koch Ting, der dennoch im ganzen Land für die Leichtigkeit berühmt war, mit der er ein Rind zu zerteilen vermochte. Als Ting sogar vom mächtigen König einmal befragt wurde, was das Geheimnis dieser seiner Mühelosigkeit sei, antwortete er bloß: „Wenn ich an eine komplizierte Stelle gerate, rate ich mir, aufzupassen und vorsichtig zu sein, halte den Blick auf das gerichtet, was ich tue, arbeite sehr langsam und bewege das Messer mit größter Umsicht – bis das Fleisch dann wie von selbst von den Knochen fällt.“
Und zur Untermauerung der Beschreibung dieser komplexen Dimension des Flow zitiert Csikszentmihalyi auch einen westlichen Weltklasse-Tänzer: „Eine große Entspannung und Ruhe kommt über mich. Ich sorge mich nicht über Erfolg und Misserfolg. Ich möchte mich dann ausdehnen, die ganze Welt umarmen. Und ich fühle die enorme Kraft in mir, etwas Erhabenes und Schönes zustande zu bringen.“ Allen gemein ist laut Csikszentmihalyi eine essenzielle Erfahrung: „Jemand, der sich auf eine Tätigkeit oder Sache voll konzentriert, statt sich um sein Selbst zu sorgen, erfährt ein Paradoxon: Er fühlt sich nicht mehr als eigenständiges Individuum, doch sein Selbst wird stärker.“

Ausgewählter Artikel aus dem Jahr 2006

Jakob Steuerer, Economy Ausgabe 11-06-2006, 11.05.2015